Beziehung als zweiter Parameter der Stimmklangbeschreibung

Intersensus

Unser Bindegewebssinn ermöglicht uns die Wahrnehmung für feine Bewegungen im Körperinneren, passive Bewegungen und ihrer Richtung. Der Begriff lehnt sich an den vom Volkmar Glaser geprägten Begriff des Transsensus an und wurde durch Ulrike Sowodniok geprägt. Mit dem Intersensus verbunden ist das Gefühl von Präsenz, Tiefenwahrnehmung und innerer Räumlichkeit.

Grundlage des Intersensus sind Mechanorezeptoren, die sich in unserer Haut und auch den körperinneren Umhüllungen, wie den Faszien und Membranen, befinden und dort Wahrnehmungen für 
Berührung, Dehnung, Vibration und Druck ermöglichen. Namentlich sind es die Vater-Pacini-, Merkel-, Ruffini- und Golgi*-Rezeptoren und die interstitiellen Rezeptoren mit freien Nervenendingungen. 

Die
Stimmlippenschleimhaut ist intraepithelial und subepithelial mit einer Vielzahl dieser Sensorien ausgestattet. Bezogen auf die Stimmfunktion gewinnen sie bei angemessener medialer Kompression ihre Informationen aus der Qualität der Eigenberührungen der Stimmlippenschleimhaut im Oszillieren zwischen Öffnung und Schließung. Dabei ist es die Schwingungsbereitschaft des Schleims, der Schleimhaut und der Stimmlippenfaszie, die den darunter liegenden Muskel (musculus vocalis) sensorisch anspricht. 

Diaphragmenkette

Diaphragmen sind im Körper quer angelegte, überwiegend membranöse Zwischenböden. Sie stabilisieren ihn an Engstellen in der Vertikalen und unterstützen mit ihren Pulsationen das Strömen der organischen Versorgung im Körperbinnenraum. Die pulsatorische Qualität dieser Körperregionen werden durch die Muskelzüge und Knochenöffnungen (ein funktionales Diaphragma) bestimmt.

 

Bezogen auf den Klang ist es die membranöse Schwingung der häutigen Innenauskleidung welche für die vertikale Durchlässigkeit von Klang im Körper, und damit der Resonanzentfaltung, von Bedeutung ist. Hierfür müssen sie von ihren Trenn- und Schutzfunktionen entbunden werden. Ihre Verklanglichung erfolgt über den Fasziensinn - den Intersensus.

 

  • Helligkeit (Energie, Brillanz) im Klang ist dabei das Ergebnis von Vibrationen in Membranen, Schleimhäuten und Knochenporen. Sie bilden einen "hellen Saum" um Körpergrenzen, die sie durchqueren und umspielen.
  • Dunkelheit (Räumlichkeit) hingegen ist das Ergebnis von Resonanz in einer konkreten Körperhöhle. Bei hoher Klangenergie (Helligkeit, Brillanz) schließen diese sich zu neuen klanglichen Räumen zusammen.

Transsensus

Nach Glaser beschreibt Transsensus unsere Fähigkeit, das Ausmaß unserer Selbstwahrnehmung auf belebtes oder unbelebtes auszuweiten, indem wir es in unsere Propriozeption integrieren. Durch intentionale Zuwendung einer Person oder Sache gegenüber entsteht das Empfinden einer "über sich hinaus spürenden Erweiterung des Körperschemas". 

Im Stimmklang umspielt der Transsensus qualitativ den Übergang zwischen Körperraum und Umgebung.

 

Neurologische Grundlage des Transsensus sind die Muskelspindeln, die durch das der Formatio reticularis extrapyramidal entspringende γ-Nervensystem (Gamma-Faser-System) innerviert werden. Die Aktivität des GFS lässt die Muskesspindel unter einem höheren Wirkungsgrad arbeiten - als ob sie bereits passiv vorgedehnt worden sei (antizipatorische Isometrie).

 

Bei Tieren wird der Bereitschaftszustand der Muskulatur über die lauschende Orientierungsreaktion (Pinna-Reflex) bereitgestellt. Menschen können den Transsensus hingegen absichtsvoll nutzen. In diesem Bereitschaftstonus verschwindet das Körpergefühl hinter dem Raumbezug, wobei alle Bewegungen diesem Prinzip folgen können.

 

Geschieht dies, ordnet sich die Bewegungsmuskulatur der sinnlichen Wahrnehmung unter. Infolgedessen organisiert sich der muskuläre Tonus entsprechend des Tonus des GFS und passt sich dem Situationskontext unwillkürlich an. Dies betrifft aufgrund des weitgefächerten Verteilungsmodus immer die Gesamtheit des Körpers. 

 

Verbunden mit dem Transsensus sind Empfindungsqualitäten des Balancierens, Gleitens und der innerer Dehnung (ohne aktives Dehnen) treten hervor. Über den Transsensus reagiert die Muskulatur unmittelbar auf Klangberührung.

 

Laryngeales Korrelat ist der stimmlippeninterne musculus vocalis. Im menschlichen Körper soll sein oberflächlicher Anteil die größte Dichte an Muskelspindeln enthalten. Für sie dient Schwingung informatorisch als subtiles Dehnungsspiel. Seine hohe Verformungsautonomie wird durch eine Vielzahl motorischer Endplattendehnungssensibler Rezeptoren** und eine zopfartige Muskelstruktur gewährleistet



* Zu diesen Mechanorezeptoren werden in der Lichtenberger Arbeit die Golgi-Rezeptoren hinzugezählt. Laut Schleip werden sie allerdings nur bei Muskelkontraktion aktiv. Ihre Stimulation führt zu einer Tonus-Senkung quergestreifter Muskelfasern.

** Die existierende Literatur bezüglich des Vorkommens von Muskelspindeln innerhalb der Kehlkopfmuskulatur ist bis heute widersprüchlich. Wyke (1974) geht hier von einer geringen Anzahl an Muskelspindeln aus. Dafür soll eine Vielzahl spiraliger Nervenendingugen vorhanden sein, deren Struktur und Verteilung sie als Mechanorezeptoren für passive Dehnung qualifizieren. Sanders et al. (1998) konstatieren die höchste, für einen menschlichen Muskel bekannte, Verteilungsdichte an Muskelspindeln im (vor allem oberen) vocalis. Die letzten mir bekannten Untersuchungen von Brandon et al. (2004) widersprechen diesen Ergebnissen vollumfänglich. Keine einzige muskelspindelartige Struktur konnten sie ausmachen. Für sie scheint es dennoch notwendig anzunehmen, dass der vocalis nicht näher bekannte "spindel-artige" Rezeptoren und Afferenzen verfügt, die die Koordination komplexer Kehlkopfaktivitäten überhaupt gewährleisten. Nach derzeitigem Stand scheint nur die interarytaenoide Muskulatur gesichert mit Muskelspindeln ausgestattet zu sein (siehe Ludlow, 2005).


  • Quellen:
  1. Sowodniok, Ulrike (2013): Stimmklang und Freiheit. Zur auditiven Wissenschaft des Körpers, 1. Auflage, Bielefeld: transcript Verlag.
  2. Rohmert, Gisela; Landzettel, Martin (2015): Lichtenberger Dokumentationen. Erkenntnisse aus Theorie und Praxis der Physiologie des Singens, Sprechens und Instrumentalspiels, Band 1, 1. Auflage, Lichtenberg: Lichtenberger Verlag.
  3. Schleip, Robert (2003): Faszien und Nervensystem, in: Osteopathische Medizin, 4. Jahrgang, Heft 1, S. 20-28
  4. Wyke B. D. (1974): Laryngeal myotatic reflexes and phonation. Folia phoniat.; 26:249-264
  5. Brandon et al. (2004): Staining of Human Thyroarytenoid Muscle with Myosin Antibodies Reveals Some Unique Extrafusal Fibers, but no Muscle Spindles
  6. Christy L. Ludlow  (2005): Central nervous system control of the laryngeal muscles in humans in Respir Physiol Neurobiol.; 147(2-3): 205–222.
  7. Vrobel, Susie (2011): Fractal Time. Why a Watched Kettle Never Boils in Studies of Nonlineaer Phenomena, in: Life Science, Band 14, Singapur: World Scientific Publishing Co. Pte. Ltd.; S. 123-124