Mehr oder minder unsortierte Gedankenspiele

Folgende Zeilen stellen eines solcher Gedankenspiele dar, wie ich sie öfters habe. Ich beschäftige mich damit, an welchen Momenten "Natur" und "Kultur" Berührungs- und Reibefläche erhalten, und sich ein "materieller Diskurs" verwirklicht. In welchen Momenten sich bei einem körperlich fühlenden, in einer Umwelt eingebundenen und von ihm durchdrungenen Selbst Dialoge an seiner Körperoberfläche zum Ausdruck bringen. Mag es Mimik, Gestik, Körperspannung, Atmung oder Stimmgebung sein. Damit stecke ich gedanklich stets im Embodiment-Diskursen, als auch in funktionellen Reflektionen - Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft finden common ground, setzen doch beide an unserer Erfahrung an, verstehen zu wollen, was es heißt Mensch zu sein.

 

Funktionale Stimmansätze haben es seit jeher mir angetan. Auf körperliche Spurensuche gehen mit der Frage und der Faszination für die verschiedenen Bilder und Empfindungen von bspw. "Räumlichkeit", die sich zeigen kann:

  • in der Einatmung vom Nachgeben, Öffnen und Widerstandsloswerden der Atemwege - der Entfaltung, Senkung und Öffnung des Kehlkopfes in die Tiefenempfindung des Körpers
  • von der Wachheit und genussvollen erfrischenden Erweiterung der unteren Atemwege, durch das Aufnehmen aus dem Umraum
  • von der körperlichen Aufrichtung, Ausdehnung oder dem Aufgehen in den umgebenden Raum - der Schwerkraft entgegen (kommend), in pulsierender Balance, wie ein Fisch in der Strömung
  • von der gesteigerten geistigen Wachheit, die eine hohe Reagibilität und Flexibilität in der (mehr oder minder intentionalen) Bewegungsorganisation und -richtung ermöglicht
  • von dem damit verbundenen Gefühl von Entscheidungsfreiheit und Selbstwirksamkeit
  • vom kontinuierlichen Fluss aus Informationen aus dem Innen und Außen im erlebenden Folgen einer Bewegung, einer Atmung, einer stimmlichen Situation (und damit einer Beziehungssituation)

Dabei ist Ausgangspunkt meiner Betrachtung der Kehlkopf mit seinen zwei Ventilen (Doppelventilfunktionstheorie):

  • einem potentiellen Atemventil gegenüber einströmender Luft, welches aufgrund seiner aufwärts-gerichteten Wölbung einen besseren Schutz gegenüber eindringenden Substanzen (bspw. Schmutz, Insekten) leisten kann - gerade, wenn infolge einer großen Einatmung der Kehlkopf sukzessive gesenkt und damit entfaltet wird = Stimmlippen
  • einem evolutionär-älteren Ventil, das aus rudimentären, wenig differenzierten Strukturen besteht und aufgrund seiner abwärts-gerichteten Wölbung besonders gut austretende Luft schließen kann. Da die Gewebestrukturen aber wenig ausdifferenziert und muskulär schwach bis gar nicht ausgebildet sind, können sie dies nicht autnom bewerkstelligen, sondern es muss eine sukzessive Verengung Strukturen der oberen Atemwege entstehen und die Stimmlippen schließen, um den Druckaufbau im Körper standzuhalten = Taschenfalten.

Beide Strukturen stehen also mit der reflektorischen Verschaltung von Verschlussprogrammen und erhöhter Verschlussbereitschaft zusammen, die mit den Phasen der Atmung und Bewegung zusammen hängen. Noch konkreter mit der Kraftrichtung in einer Bewegung der Extremitäten - und wie sich der Rumpf hierauf zu verhalten habe.

 

Vor Kurzem habe ich noch einmal das Buch von Michael Heptner gelesen und dieses Mal versucht, auch in der Tiefe etwas mehr zu durchdringen. In der Vergangenheit fiel es mir ab einem gewissen Punkt schwer, dem Inhaltlichen folgen zu können und die Leerstellen in meinem Kopf eigenständig oder durch andere Lektüre zu füllen. Mittlerweile spekuliere ich viel und halte diese argumentative Kette einfach in einer Schublade im Hinterkopf, bis ich sie vllt. mal wieder rauskramen kann (dies ist so ein Moment). In Heptners Überlegungen fiel mir im Spiel mit meinen eigenen Erfahrungen zunehmend auf, dass ein Denken in vielen Dimensionen der Bewegungsentfaltung ("LTO" - longitudinal, transversal, oblique, und weitere) mir bildlich möglich war und meinem Annähern dem Phänomen Stimme und den verschiedenen Ansätzen und Konzepten von verschiedenen Ausgangspunkten sehr entgegen kam: Der Grundgedanke, dass "Stimme" ein inter- und intrasoziales und psycho-emotionales Phänomen ist und damit in viele Kontexte eingebunden sein muss (diese auch vorbedingt, schafft und informiert) - sei es: Essen, Intimität, Sex, "Brutpflege"... - folgt auch, dass sie auch rückwirkend mit diesen kommuniziert und sich funktionell anpasst.

 

Die Vielfältigkeit des Ausdrucks, der Lebenswirklichkeit und der Selbsterfahrungen und -referenzen menschlichen Lebens lassen eine Vielzahl möglicher Organisationsformen von "Stimme", "Atmung", "Bewegung" und "Emotion" zu, die auf eine Vielzahl gemeinsamer organischer Komponenten zurück greifen kann. Verschiedene körperliche Systeme, die unterschwellig Prozesse initiieren, regulieren und beenden (bspw. die Regulierung der Atmung durch Informationen aus haltendenden und bewegenden Muskeln, Blutdruck- und Blutgasverhältnissen, Dehnungs- und Druckreizen...) können für uns Anlaufstelle in Körper-, Atem- und Stimmarbeit sein. Manche Ansätze werden mehr stimmliche Entfaltung suchen in dem Erleben der Stimme als Zustand, und des Selbst als Schwingungskörper für die Stimme - über eine entwickelte Körperinnenwahrnehmung und Orientierung an Empfindung, an Ausdehnung und Übertragung von Schwingung durch das Fasziensystem, dem Erleben von Stimme als körperliches Substrat. Dies ist insofern besonders spannend, da die Kehlkopfventile mehr oder minder in Prozesse eingebunden sind, die mit dem Transport von Stoffen, deren Aufnahme und Abgabe zu tun haben - bspw.

  • Organen der Abgrenzung und der Öffnung - Sphinktern und sphinkterähnlichen Organen - Vorverdauungsorganen, bspw. beim Würgen
  • Transportwegen für Nahrung oder Luft wie den oberen Atemwegen, dem Kehlkopf, Bronchien und Lungengewebe, als auch Speiseröhre, die wiederum auch vom Zwerchfell umfasst wird - bspw. beim Schlucken, Husten, Räuspern
  • der Schnittstelle von Atmung und Herz-Kreislauf-System, durch bspw. Druckverhältnisse, Ventilsysteme, Chemo- und Druckrezeptoren in den Gefäßen, der Unterstützung der Blutzirkulation im Herzen durch die Atmung und der auf die körperlichen Bedürfnisse und für die Muskulatur, inklusive Herz, reagierenden Atemmuskulatur 
  • das lymphatische System
  • die Welt der Organe und Nahrungsaufnahme - in Kontakt mit Erfordernissen von posturaler Stabilität und Atemmechanik bei verschiedener körperlicher Beanspruchung - bspw. die Bauchpresse beim Stemmen schwerer Objekte, der Glottisschluss bei rumpferweiternder Belastung der Extremitäten (Hangeln, Klettern) 
  • den Sexualorganen und Ausscheidungsorganen, bspw. der Beckenbodenmuskulatur und Sphinktern - beim Gebären, bei der Defäkation

Der physikalische Begriff der "stehenden Welle" findet hier eine körperliche Entsprechung in Form von Schwingungsausdehnung und rezeptiver Offenheit - einem Zustand von Vertrauen.

 

Steigert sich das Maß der Bewegung und damit auch die Ventilation, werden muskulär klarere Antworten notwendig, die ebenfalls durch die Vielzahl variierender, starker Reize an der Regulation von Prozessen, wie auch der Stimmgebung, mehr oder minder im Hintergrund mitwirken.

 

Gerade im Bereich der Stimmarbeit nach Heptner verdichten sich Anhänger des Atemtypen-Konzeptes, wie es auch Mathias Knuth bspw. in seinem Buch "Zirkeltraining für die Stimme" mit dem Ansatz Heptners zusammenführt. Gerade das Bewegen um den dynamischen Zustand der Balance von Ein- und Ausatemkräften und damit eines Brustkorbes in relativer Neutralität, erlaubt zumindest mir mit Heptners Terminologie und Konzeptionalisierung laryngealer Funktionalität einen spielerischen Zugang aller möglichen Organisationen von Bewegung, Stimmgebung, Artikulation auf ihre Grenzen des Vertretbaren, auf ihre Interventionsmöglichkeiten in der Therapie,.. als Ausdrucksform eines Spektrums für möglich zu halten und zu erproben.

 

Auch meine aktuellen Recherchen zur Historie der laryngealen Doppelventilfunktion, den Mechanismen und Reflexkreisen laryngealer Verschlüsse und den Wechselwirkungen mit körperlichen Systemen und den Zyklen der Atmung ist dies Rechnung zu tragen. Aktuell inspirieren mich zudem die Videos des amerikanischen Kanals "Posturepro", die sowohl die Stimulation und Aufrichtung des Fußgewölbes im Zusammenhang mit reflektorischer posturaler Kontrolle (vgl. "Gewölbesticks" von Heptner), den Funktionen der Augen und der Zungenruhelage als Faktor posturaler Stabilität und Ermöglichung der Nasenatmung (bei offenen Atemwegen) thematisieren. Dieser Vorrede folgt nun ein kleines Gedankenspiel funktioneller Verknüpfungen:

 

Gehen wir also davon aus, dass der Kehlkopf mit seinen zwei Ventilen (Stimmlippen; Supraglottis: Aryepiglottis mit Taschenfalten und weiterer Schlundmuskeln) der Koordinierung von Öffnung und Verschlusses der Atemwege und des Ventilkontakts zur Stabilisierung des Körpers bei Unterdruck- oder Überdrucktendenz in der Lunge diente. Es müsste von reflektorische Anpassungen der Muskulatur und innerkörperlichen Kommunikationsprozessen ausgegangen werden, die alle möglichen Formen von Atemtiefe und -form bei körperlicher Belastung, Stabilität und Bewegung erlauben. Und das ohne einen zu großen Verschleiss dieser und anderer Systeme (bspw das Lungengewebe, die Wirbelsäule, das Organsystem - die Homöostase) mit sich zu führen - im günstigsten Fall eine Homöoostase aufrecht zu erhalten.

 

  • Beziehen wir ein, dass unser Körper über sensorisch üppig ausgestattet ist mit Rezeptoren, die uns an die äußeren Faktoren anbinden (bspw. Druck-, Dehnungs-, Berührungsimpulse - eine Vibration eint all dies) - Füße, Hände, Gleichgewichtssystem / Hörorgan (bspw. Teil der Raumwahrnehmung, Orientierung), Augen, Muskel-Faszien-Organ usw. ...
  • Stellen wir die These auf, dass eine Hinwendung zu einer Empfindung von einem Reiz eventuell dysregulierende Prozesse der Informationsaufnahme/verarbeitung/interpretation und -konsequenz unterbindet, optimiert und Feedback-Mechanismen unterstützen kann (bspw. Regelkreistheorie, wonach Schluss- und Oszillationsqualität der Stimmlippen über das Zuschalten von Elementen des Überdrucksystems und damit Überschreiben des Reflexkreises der Einatmung entscheidet)...
  • so ergibt sich in Folge ein Spiel oder Spektrum willkürlicher Regulation und mehr oder minder unwillkürlicher Regulationsprozesse bei der Ausführung einer Bewegung, einer Atmung, einer Stimmäußerung. Wir haben die Möglichkeit, zu führen oder zu folgen - verschiedene Felder unserer Sensomotorik bedienen. 
  • Beziehe ich zudem ein, dass bei meiner Recherche bzgl. gesteigerter Reflexbereitschaft zum Schluss der Glottis Momente großen intrathorakalen Unterdrucks (bspw. beim Hangeln, wenn die Muskulatur der oberen Extremitäten ein stabiles Widerlager am Brustkorb erfordert und das Eigengewicht des Unterkörpers ebenfalls Zug auf die Lunge auswirkt, sodass die Stimmlippen sich schließen müssen), als auch in der Postinspiration und im Verlauf zunehmender Exspiration (was in Bezug auf einerseits eine steigende Überdrucktendenz bei sukzessiver Aktivierung der Ausatemmuskeln und Hilfsmuskeln und einem ebenso notwendigen Bedürfnisses des Schutzes mind. von Lungengewebe) die Reflexbereitschaft steigt, ergeben sich weitere Gedankengänge. Die laryngealen Strukturen erhalten stetig Reize und sind sind stets in Bewegungen eingebunden (als bewegliches Knorpelsystem mit Sphinktern in einem Netz aus Muskeln, Knochen und Geweben und einem Zug der Luftröhre von unten) und damit auch in mehr oder minder abrupten Druckschwankungen. Die Schleimhaut der Stimmlippen (die sich ihre Innervation mehr oder minder mit dem Stimmlippendehner, als auch der Rachenwand und ich glaube mich zu erinnern, auch den Taschenfalten, teilt) mit ihren Rezeptoren für Berührung, Druck, Temperatur, Dehnung - die Rezeptoren von Muskeln und Gelenken - sollten mehr oder minder in Kommunikation mit diesen Veränderungen stehen (oder stehen müssen).

  • Wobei eine Stabilisierung des Körpers dominant über Überdruck und damit Reduktion an Empfindsamkeit und einer Einschränkung an Bewegung, einer Rigidität Verkürzung und Dysbalance von Muskeln und Faszien, diesen Ansprüchen ungenügend Rechnung trägt. Langfristig kommt es zur Störung, aber kurzfristig macht dies durchaus Sinn, wenn man bedenkt, dass Zustände des Schmerzes auf Verletzung und Erkrankung weisen und der Körper so zu Erholung, Schonung und Rückzug zwingt, bis (hoffentlich) Besserung auftritt.

 

Besagte Rezeptoren liefern sicherlich u.a. dem Hirnstamm - der Zentrale für reflexiv regulierte Prozesse - Informationen, die wiederum den Fortlauf des Prozesses regulieren können. Gerade im Kontext der Doppelventilfunktion nimmt Kruse (siehe "Funktionale Laryngologie") an, dass es sich um ein reflektorisch verschaltetes Muster gekoppelt mit der Aktivität der Atemmuskulatur (und damit implizit auch bzw. der Atemphase) handelt.

 

Wenn also mechanische Einwirkung durch fließende Luft auf die Stimmlippen als sich annäherndes und schließendes Ventil ein implizites Dehnungsspiel in der Vibration meint (punktuelle Druckmomente, Momente der Verhandlung muskulärer Härte oder Weichheit und damit Widerstands oder Dehnungsaffinität), und die gesteigerte Reflexbereitschaft der Stimmlippen bei Beginn der Ausatmung (Postinspiration), Ausatemzunahme und Reizung der Schleimhaut durch Luftimpulse bekannt ist - wird der Bernoulli-Effekt vllt. nur ein Aspekt der Betrachtung bei luftflussorientierten Stimmübungen sein. Umgekehrt erfordert eine höhere Einatemaktivität im Kontext mancher Bewegungen dann auch eine höhere muskulär-vermittelte mediale Kompression der Stimmlippen.

 

Gerade bei Bewegungen, die hochfrequent ein Wechselspiel um diese beiden Dimensionen von Saugen und Fließen lassen evozieren könnten (Beuge-Streckbewegungen, Ausgleichsbewegungen, Hüpfen/Federn/Wackeln/Kreisen/Schwingen/Schütteln), könnte ein solcher Vermittlungsprozess eingeleitet werden. In dem Zusammenhang finde ich die Betrachtung eines Vibratos als Balancespiel medialer Kompression und Luftfluss/Luftdruckaspekte spannend zu kontextualisieren. Auch ein Vokalglissandi und/oder Tonhöhenglissandi trägt all dies in sich: Wechsel von Längung und Verkürzung, Zunahme und Abschwellen von Muskelmasse, Spiel von Luftdruck- und Luftflussverhältnissen. Das Heptner für das Erlernen der "inspiratorischen Gegenspannung" den Wechsel des unterdrock (sog-) dominanten u mit dem (in seiner Terminologie) luftigsten Vokals, dem ('neutralen') i als Idee heranführt, wird da nicht verwunderlich. Ein- und Ausatmung, Saugen und Fließen, als große oder kleine Bewegungen um eine Mitte - eine Ökonomie des Erlebens und Handelns.

 

Es ergäben sich dann vielfältige Möglichkeiten, Vokal und Vokalfolgen (und damit Formung des Ansatzrohres, der Artikulation und der begünstigten Kehlkopffunktionalität) in Einatmung und Stimmgebung, Tonhöhen und Lautstärken, Rhythmen... mit Formen der Atemtiefe und -exkursion bei verschiedenen Bewegungen einzusetzen. Therapeutisch hieße das eine Orientierung an den Ressourcen, Bedürfnissen, Möglichkeiten des Menschens und seiner Stimme. Und auch, wenn dies kalkuliert wirkt, so steht doch immer ein Erleben und Bewegen in einer Dimension, Erlebens- und Ausdruckmöglichkeit im Vordergrund, die der Stimme hilft, sich günstiger zu organisieren. Wir arbeiten dann am Framing und der Beziehungsentwicklung zur Materialität und Agency von Stimme und ihrem Erleben als körperlich-immanentes und auf ihn wirkendes Phänomen.

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